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  Das Leben auf dem Land
 

 

 

 

 

„Das kannst Du Dir nicht vorstellen…“

Mit einem Hilfkonvoi im Süden Weißrusslands unterwegs

Ein Beitrag mit diesem Titel wurde uns von Frank Glade aus Blieskastel zugesandt. Herr Glade wurde durch unsere Homepage auf unseren Verein aufmerksam und sandte uns seine Eindrücke. Es war seine erste Reise nach Weißrussland. Wir wollen mit einigen Ausschnitten seines Berichts die Eindrücke eines „Neulings“ wiedergeben. Auch die eindrucksvollen Fotos die diesen Bericht illustrieren sind von Herrn Glade.

 
       
 
„Das kannst Du Dir nicht vorstellen, diese Armut, diese Leben dort...“ Während der 24-stündigen Autofahrt von Blieskastel nach Shitkowitschi haben wir viel Zeit zum Erzählen. Jürgen, ein 54jähriger gestandener Unternehmer, verbringt seit nunmehr sieben Jahren den weitaus größten Teil seiner Freizeit mit Fahrten in das „Tschernobyl-Gebiet" im Süden Weißrusslands. Mittlerweile ist er mit vielen russischen Familien freundschaftlich verbunden. Und immer wieder kommt er beim Erzählen kopfschüttelnd zum dem Schluss: „Das kannst Du Dir nicht vorstellen..."
 
       
 
Als wir am nächsten Abend endlich etwas zerknautscht und übernächtigt aus dem Auto steigen, werden wir von Ludmilla und Sascha und ihren drei Kindern herzlich in die Arme geschlossen. Meine „Gastfamilie“ hat ihr Wohnzimmer für mich geräumt und hergerichtet. Vor dem Abendessen mache ich noch schnell einen ersten Spaziergang. Shitkowitschi ist eine Stadt von 20.000 Einwohnern.
 
       
 
Es gibt einige asphaltierte Straßen. Ich komme nur langsam im Wohngebiet vorwärts, weil ich die großen Wasserpfützen auf den breiten Straßen umrunden muss. Überall sind Fußgänger unterwegs. Zum alltäglichen Straßenbild gehören aber auch die vielen wilden Hunde und Katzen. Gänse und Hühner kreuzen ebenso selbstverständlich den Weg, ein Fahrer eines in die Jahre gekommenen Golf versucht auf dem holprigen Weg ein Pferdefuhrwerk zu überholen.
 
       
 
Hinter den Zäunen stehen im regelmäßigen Abstand die unzähligen Holzhäuser, die an idyllische Gartenhäuschen erinnern. Frisch gestrichen wirken sie märchenhaft beschaulich. Doch die meisten sind heruntergekommen. Plastikfolien ersetzen längst Glasscheiben. Vor der Haustür steht der Brunnen für die Versorgung mit Wasser. Am Ende der Straße sieht man eine triste Fassadenkette von Plattenbauten, die hier ebenso das Stadtbild prägen. Ihre Wohnungen verfügen über ein kleines Badezimmer. Allerdings sind die Häuserkolonien häufig in einem desolaten Zustand und haben häufig noch nicht einmal eine Haustür.
 
       
 
Zurück bei Ludmilla und Sascha. Beim Nachtessen biegt sich der Küchentisch vor Köstlichkeiten. Den Gästen wird alles geboten, was man nur zusammentragen konnte. Ludmilla ist zur Direktorin des hiesigen Gymnasiums berufen worden, Sascha arbeitet im Schichtdienst im Steinbergwerk. Sie verdienen zusammen im Monat umgerechnet rund 400 Euro. Ein Liter Speiseöl kostet allerdings schon 2 Euro.
 
       
 
Gemeinsam mit ihren Kindern betreiben sie neben ihren Berufen eine kleine Schweinezucht und pflanzen in den einfachen Gewächshäusern, die ihr Haus umrahmen, jährlich 4 Tonnen Gurken an. So kommen sie ganz gut „über die Runden" und können Stück um Stück ihr Familienheim erweitern. Das Essen schmeckt herrlich, besonders der in Kräutern gedünstete Karpfen, den Ludmillas Vater gestern geangelt hat.
 
       
 
Am nächsten Morgen fahre ich mit Jürgen zum Lager. Hier treffen wir die anderen sechs Männer des Konvois, die ebenfalls mit Kleintransportern angereist sind. 1311 Bananenkisten wurden mit Fahrrädern, Kinderwägen, Schultafeln... aus dem Container geladen. Jede Kiste ist bereits in Deutschland an einen konkreten Empfänger adressiert worden. Die Männer scheinen mit den Adressen vertraut zu sein. Termine und Fahrtrouten werden abgesprochen und dann geht's auch schon los.
 
       
 
Wir fahren eine knappe Stunde über Land und halten schließlich vor einem winzigen Holzhäuschen. Barfuss kommt uns eine Frau mit einem Säugling auf dem Arm entgegen. Während sie den Empfang der Pakete unterschreibt, schau ich mich in ihrem Haus um: Abgetrennt vom kleinen Eingangsbereich mit Gasherd, Waschschüssel und einem Regal für wenige Lebensmittel, gibt es nur einen Raum in diesem Haus. Ein kleiner Tisch mit drei Holzschemeln steht zwischen den vier Feldbetten an den Wänden.
 
       
 
Überall stapeln sich Kleider und ein paar Haushaltsgegenstände. Der Frau steht mit ihren fünf Kindern nur ein Schrank zur Verfügung. Seine zwei Türen halten nur notdürftig zusammen. Beheizt wird das Haus mit einem aus Kalkstein gemauerten Ofen. Die Fenster sind mit Wolldecken verhängt. Vor dem Haus steht über der Feuerstelle ein Kessel für die Wäsche. Die junge Frau weicht meinem Blick aus, als wir uns von ihr verabschieden.
 
       
 
„Jetzt kannst Du Dir vielleicht vorstellen", sagt Jürgen später im Auto, „warum wir immer wieder hierher kommen müssen!“ Mir fehlen erst einmal die Worte. Immer werden mir in den nächsten Tagen Mütter mit Kindern oder alte Menschen in vergleichbaren Wohnverhältnissen begegnen. Aber schon nach diesem ersten Besuch weiß ich, was hier die drei Bananenkisten mit Kinderkleidern, Mehl, Haarshampoo und ein paar Süßigkeiten bedeuten können.
 
       
 
Wir besuchen auch Schulen, Kindergärten und ein Krankenhaus. Die Männer wissen genau, was dringend gebraucht wird und haben - von der Wasserpumpe bis zur Bodenfarbe - vieles im Gepäck. Unter dem endlosen Himmel der russischen Weite scheint vielerorts die Zeit stehen geblieben zu sein.
 
       
 
Da ist eine uralte Frau mit ihren drei Ziegen unterwegs. Dort wird ein Acker mit einem Pferdefuhrwerk gepflügt. Aber diese Welt wird es nur noch wenige Jahre geben. Viele Dörfer auf dem Land sterben allmählich aus. Die wenigen Alten leben häufig so genügsam wie zufrieden von dem Wenigen, was ihnen Scholle und Garten bieten. Sie scheinen mit sich und der Welt im Einklang zu sein. Viele freuen sich, dass neuerdings vielerorts mit staatlicher Unterstützung Kirchen gebaut werden.
 
       
 
Doch Tür an Tür lebt neben vordergründig ländlicher Beschaulichkeit die blanke Not. Immer wieder begegnen uns in den folgenden Tagen Menschen, für deren Armut hier niemand zuständig scheint: die kinderreichen Frauen, deren arbeitslose Männer die leider so landläufige Schwermut im Wodka zu ertränken versuchen, die Alten, die keine Kraft mehr haben, ihren Garten zu bewirtschaften.
 
       
 
Jürgen und seine Freunde sind ständig bemüht, die Adressen von Menschen in Not zu ermitteln. „Wir können ihre Situation nicht ändern", sagt er, „aber ein wenig erleichtern wollen wir sie schon." 7 Tage später, auf der langen Rückreise nach Deutschland haben wir natürlich wieder viel Zeit zum Erzählen. Aber längst nicht nur die Armut der Menschen kommt zur Sprache.
 
       
 
Die warmherzigen Blicke der in sich ruhenden „Babuschkas“ auf dem Land und auch die Gastfreundschaft von Ludmilla und Sascha werde ich nicht vergessen. „Was hat Dir denn am Besten gefallen?", fragt Jürgen. Da muss ich nicht lange überlegen. Sofort fällt mir mein Besuch in der zweiten Grundschulklasse ein. Die 13 Kinder sind mit ihrer Lehrerin innig verbunden. Zweimal im Schuljahr besucht sie ihre Eltern und unternimmt auch in den Ferien viel mit „ihren" Kindern. Jedes einzelne liegt ihr am Herzen. Und die Kinder lernen gern und begeistert, viele sogar die deutsche Sprache.
 
       
 
Denn einige waren schon zur Ferienerholung im Saarland, die auch Jürgen und seine Freunde organisieren. Und nun bringen Sie für mich deutsche Sprichwörter zum Besten und singen anschließend fröhlich „Ach, du lieber Augustin...“ Als ich jedem Kind zum Abschied einen kleinen Schokoriegel schenke, leuchten ihre Augen vor Dankbarkeit. „Ja, ja, diese leuchtenden Kinderaugen!“, sagt Jürgen. Und in Gedanken plant er schon wieder seine nächste Fahrt nach Shitkowitschi.
 
       
 

Die Situation der Menschen hat sich in den letzten Wochen deutlich verschlechtert. Ein Winter mit noch unsicherer Energieversorgung ist zu bestehen. Und neuerdings gibt es in Weißrussland eklatante Preiserhöhungen. Viele alte Menschen, kinderreiche Familien und Arbeitslose werden bittere Not leiden müssen. Der Jahresbeginn war uns vielleicht ein paar Gedanken wert, wie und wem wir unsere Hilfe zukommen lassen.

 
 
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      Aktualisiert am: 12.02.2011